Lassen Sie sich bitte nach Möglichkeit keine künstliche Intelligenz (AI) aufschwatzen, die Ihnen das Vorstellungsgespräch, die Führungskräfteauswahl oder gleich den ganzen Recruiting Prozess abnehmen soll. Überall dort, wo im Personalbereich schwierige Entscheidungen getroffen und komplexe soziale Prozesse erfolgreich umgesetzt werden müssen, schießt das Angebot angeblich unfehlbarer AI-Lösungen in die Höhe. Die Versprechen der Anbieter klingen verlockend:
- Valide Personalauswahlentscheidungen auf Grundlage der automatisierten Analyse der Persönlichkeit von Bewerber:innen
- Vorstellungsgespräche mit einer künstlichen Intelligenz
- Stimmanalysen, die Ihnen alles Wichtige über die Bewerber:innen verraten
Das Problem:
Die Allermeisten künstlichen Intelligenzen sind im Bereich der Auswahl leider noch sehr dumm. In der Regel erfüllen sie nicht einmal die Mindestanforderungen an diesen – tatsächlich schwer zu definierenden – Begriff. Intelligenz ist psychologisch definiert als die Fähigkeit, komplexe kognitive Probleme zu lösen. Im Bereich der Mathematik oder Physik können Computerprogramme dies schon lange besser als Menschen. Bei Fragestellungen, in denen zwischenmenschliches Verhalten und unterschiedliche Einflussfaktoren wie z.B. Passung zum Unternehmen, individuelle Motivation, Kommunikationsverhalten oder Authentizität eine Rolle spielen, sind diese Programme aber völlig überfordert. Der Grund ist simpel: Die Programme können nur Algorithmen folgen, die vorher einzeln programmiert wurden. Echte menschliche Intelligenz kann dagegen z.B. im Rahmen einer Auswahlentscheidung unendlich viele Informationen kombinieren und reorganisieren.
Warum gibt es trotzdem immer mehr Angebote für HR-AI?
Dafür, dass sich immer mehr Unternehmen eigentlich nutzlose AI-Lösungen zulegen, gibt es mehrere Gründe:
- weil die Verheizungen der Technik schon immer verlockend waren und man gerne „modern“ sein möchte
- weil es im HR Bereich um Menschen und deren Verhaltensweisen geht, vielen HR-Führungskräften hier aber das fachliche Grundlagenwissen fehlt
- weil die beschriebenen AI-Produkte in der Theorie echte Probleme lösen würden (wenn sie denn funktionieren würden)
Leider funktionieren sie in der Regel nicht. Ein Beispiel: Die von verschiedenen ambitionierten Anbietern angebotenen automatischen Recruiting-Programme stufen Sie in der Regel als intelligenter ein, wenn Sie beim (automatisierten) Vorstellungsgespräch eine Brille tragen oder ein Bücherregal im Hintergrund zu sehen ist. Hier wird deutlich, dass diese sehr einfachen Regeln, die der AI vorgegeben wurden (Leseratten und Brillenträger sind intelligent) und die sie gnadenlos anwendet, eine starke Tendenz zu stereotypen Vorstellungen und Entscheidungen in sich trägt. Neben invaliden trifft die AI dann auch noch alles andere als woke Auswahlentscheidungen, denn der Algorithmus liebt natürlich den weißen Mann aus der Oberschicht.
Was also ist zu tun?
- sorgen Sie für echte Fachkompetenz im Recruiting-Bereich zu Themen wie Diagnostik, valider Testverfahren und empirischen Gütekriterien
- setzen Sie vielfach empirisch bestätigte Verfahren wie z.B. Assessment Center, Leistungstests (ja auch der gute alte Intelligenztest) und wiss. fundierte Persönlichkeitstests ein
- wählen Sie diese Verfahren gewissenhaft aus. Auch hier gibt es natürlich schwarze Schafe!
- sorgen Sie nach der Auswahl auch für einen professionellen Einsatz der Verfahren durch dafür ausgebildete Profis
- wenn sie Interesse an neuen, AI-basierten Verfahren haben, prüfen Sie diese indem Sie (externe) Experten zu Rate ziehen
Ihr Ronald Franke
Über den Autor:
Dr. Ronald Franke ist Geschäftsführer der LINC GmbH, promovierter Wirtschaftspsychologe und zertifizierter systemischer Coach. Als Berater und Trainer war er für Unternehmen aus den Bereichen Automotive, Pharma Maschinenbau und Handel tätig. Sein Wissen gibt er außerdem seit über 10 Jahren als Dozent an Hochschulen weiter (u. a. Leuphana Universität Lüneburg, FOM Hamburg).