In meinen vorherigen Artikeln ging es unter anderem um die Frage, was Persönlichkeit – aus der Perspektive der modernen Persönlichkeitspsychologie – eigentlich ist. Die kurze Antwort lautet: Das Zusammenspiel unterschiedlicher Persönlichkeitsmerkmale wie Charaktereigenschaften, Motive oder Kompetenzen, die in ihrer Gesamtheit unser Denken, Fühlen und Handeln prägen. Die nächste spannende Frage lautet nun: Woher kommt unsere Persönlichkeit und auf welche Weise bildet sie sich im Laufe der Zeit heraus?
Das Anlage-Umwelt-Problem in der Psychologie: Woher kommt Persönlichkeit?
Der erste Teil der Frage führt uns direkt zu einem der fundamentalsten Probleme in der psychologischen Forschung: dem Anlage-Umwelt-Problem. Jedes Persönlichkeitsmerkmal entspringt sowohl aus der genetischen Veranlagung als auch aus Lernerfahrungen, die wir in der Interaktion mit unserer Umwelt sammeln. Das Problem besteht jetzt darin, herauszufinden, wie groß der jeweilige Anteil von Anlage und Umwelt bei den einzelnen Merkmalen ist. Die Verteilung ist nämlich bei jedem Merkmal eine andere. So ist die Intelligenz zum Beispiel stark anlagebedingt, während Einstellungen und Motive eher auf Umwelteinflüsse wie die Erziehung zurückzuführen sind. Für die Frage nach der selbst beeinflussbaren Entwicklung von Persönlichkeit ist natürlich der Umweltanteil interessanter, denn dieser ist im Gegensatz zur genetisch „festgelegten“ Anlage veränderbar und für die persönliche Weiterentwicklung insofern besonders relevant. Die gute Nachricht: Jedes Persönlichkeitsmerkmal trägt einen signifikanten Anteil in sich, der durch Lernerfahrungen geformt werden kann. Nichts an unserer Persönlichkeit ist daher vollständig genetisch determiniert – auch nicht die Intelligenz.
Wie Persönlichkeit entsteht
Dies führt uns direkt zum zweiten Teil der Frage nach dem Entstehungsprozess von Persönlichkeit. Von klein auf nehmen wir Informationen und Reize aus unserer Umwelt auf und verarbeiten sie mittels kognitiver Prozesse. Für die Persönlichkeit relevante Informationen sind z.B. Verhaltensnormen, die uns von unseren Eltern oder der Gesellschaft vorgelebt bzw. beigebracht werden. Wie verhält man sich in bestimmten Situationen, welche Verhaltensweisen sind „richtig“, welche falsch? Wir organisieren diese Informationen in unserem Bewusstsein in sogenannten mentalen Skripten, die das Wissen für korrekte Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation enthalten. Sie haben vielleicht schon mal den Satz gehört: „Dafür hatte ich einfach kein Skript“ – im Kern bedeutet dies, dass jemand mit einer neuen, unbekannten Situation konfrontiert war, für die er keine passenden Verhaltensmuster verinnerlicht hatte (z.B. eine Hochzeitsfeier in einem fremden Land).
Das Selbstwertgefühl als Bewertungsmechanismus
Die beschriebenen Skripte repräsentieren aber zunächst einmal nur unser Wissen über die Umwelt in der wir leben und das Zusammenleben mit anderen Menschen. Entscheidend ist jetzt auch, wie wir die Dinge um uns herum und uns selbst bewerten. Der Mechanismus, mit dem wir unser eigenes Handeln und das aller anderen Menschen um uns herum beurteilen, ist unser Selbstwertgefühl. Auch dieser Mechanismus wird von klein auf herausgebildet und seine genaue Ausgestaltung hängt maßgeblich vom Einfluss unserer zentralen Bezugspersonen – vor allem natürlich unserer Eltern – ab. Positive Rückmeldungen und Bestärkung führt zu einem starken Selbstwertgefühl, ständige Kritik zu einem schwachen Selbstwertgefühl.
Sowohl unser Wissen über uns als auch das Selbstwertgefühl bilden sich also in einem Sozialisierungsprozess heraus, in dem sowohl ständig neues Wissen aufgenommen wird, als auch dieses Wissen in unsere Persönlichkeit zu Skripten organisiert und gleichzeitig bewertet wird. Die Bewertungsfunktion ist insofern wichtig, da auf Basis dieser Bewertung Entscheidungen getroffen werden können. Wenn ich zum Beispiel im ersten Versuch an einer Aufgabe gescheitert bin, ist es für die Frage, ob ich es noch einmal versuche natürlich wichtig, ob ich mir das Gelingen in Zukunft zutraue oder ob es mir aufgrund meines schwachen Selbstwertgefühls im Prinzip aussichtslos erscheint.
Im Laufe der Zeit, bildet sich bei jedem Menschen auf seiner Reise vom Kleinkind über das Jugendalter bis zum Erwachsenen mittels der beschriebenen Prozesse das heraus, was wir Persönlichkeit nennen. Dabei strebt unser Bewusstsein nach Stabilität und Kontinuität. Das bedeutet, einen einmal eingeschlagenen Pfad bei der Entwicklung unserer Persönlichkeit wieder zu verlassen, ist nicht einfach. Dieses Phänomen kennt jeder, der einmal versucht hat, echte Veränderungen an der eigenen Persönlichkeit zu erreichen.
Was bedeutet dies alles nun für unser tägliches Leben? Hier ein paar konkrete Hinweise, die sich aus dem Wissen über die Entwicklung von Persönlichkeit ableiten lassen:
- Stärken Sie Ihre Kinder und stärken Sie sich selbst! So etwas wie gut und böse gibt es aus der Perspektive der Psychologie eigentlich nicht. Es gibt nur stark und schwach. Starke Menschen treffen starke Entscheidungen. Besonders für Kinder ist es essentiell angenommen und bestärkt zu werden. Aber auch im Erwachsenenalter können Sie selbst noch immer daran arbeiten, Ihr Selbstwertgefühl zu stärken
- Seien Sie sich dessen bewusst, dass Ihre persönliche Perspektive auf sich selbst und andere Menschen eine subjektive ist, die durch Ihre Persönlichkeit beeinflusst wird. Versuchen Sie daher immer wieder auch alternative Bewertungen in Ihre Entscheidungsfindung zu integrieren
- Persönlichkeit ist stabil, aber nicht unverrückbar festgelegt. Fallen Sie nicht auf einfache oder schnelle Lösungen zur Lösung persönlichkeitsbedingter Probleme herein, sondern arbeiten Sie mit ausgebildeten Coaches und fundierten Persönlichkeitsanalyseverfahren an einer persönlichen Weiterentwicklung
Ihr
Dr. Ronald Franke
Über den Autor:
Dr. Ronald Franke ist Geschäftsführer der LINC GmbH, promovierter Wirtschaftspsychologe und zertifizierter systemischer Coach. Als Berater und Trainer war er für Unternehmen aus den Bereichen Automotive, Pharma Maschinenbau und Handel tätig. Sein Wissen gibt er außerdem seit über 10 Jahren als Dozent an Hochschulen weiter (u. a. Leuphana Universität Lüneburg, FOM Hamburg).