Warum KI die Persönlichkeit nicht ersetzt, sondern noch relevanter macht

Wenn KI in HR diskutiert wird, geht es oft um Effizienz, Automatisierung und Kosten. Was dabei leicht übersehen wird: Je digitaler Arbeitswelt und Personalarbeit werden, desto größer wird der Bedarf an einem klaren, wissenschaftlich fundierten Verständnis von Persönlichkeit.

Meta-Analysen zeigen seit Jahren, dass insbesondere Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität – ergänzt um Extraversion je nach Rolle – robust mit Leistung, Führungserfolg und Trainingserfolg zusammenhängen. Das Big-Five-Modell beschreibt diese Eigenschaften entlang kontinuierlicher Dimensionen und bildet damit heute den De-facto-Standard der Persönlichkeitsforschung.

Für HR heißt das: Je mehr Daten, Algorithmen und Automatisierung in Recruiting und Personalentwicklung einfließen, desto wichtiger wird ein stabiles psychologisches „Betriebssystem“. Ohne fundierte Persönlichkeitsdiagnostik droht KI, scheinbar präzise, aber fachlich unbrauchbare Ergebnisse zu produzieren und damit Fehlentscheidungen systematisch zu skalieren.

Trend 1: KI als direkte Persönlichkeitsdiagnostik: Verlockend, aber derzeit hoch riskant

Ein erster, viel diskutierter Trend sind Systeme, die Persönlichkeit „direkt“ aus Daten ableiten sollen: Text, Social-Media-Spuren, Stimme oder Videointerviews werden einer KI übergeben, die daraus ein Persönlichkeitsprofil berechnet.

Aus psychologischer Sicht ist hier große Vorsicht geboten. Gute Tests müssen zentrale Gütekriterien erfüllen:

  • Validität – misst das Verfahren tatsächlich Persönlichkeit?
  • Reliabilität – liefert es stabile Ergebnisse?
  • Objektivität – sind Ergebnis und Interpretation unabhängig von situativen Einflüssen?

Für viele KI-Lösungen in diesem Bereich fehlen genau diese Nachweise. Studien und Medienberichte zeigen sogar drastische Verzerrungen: In Experimenten mit videobasierten KI-Analysen wurden Kandidat:innen etwa dann als intelligenter, systematischer oder extravertierter eingeschätzt, wenn sie eine Brille trugen oder im Hintergrund ein Bücherregal zu sehen war. Persönlichkeit wird hier also nicht gemessen, sondern aus irrelevanten visuellen Cues „erraten“, und das mit potenziell diskriminierenden Effekten.

Hinzu kommt: Der EU AI Act stuft viele HR-Anwendungen als Hochrisiko-Systeme ein. Damit gehen Anforderungen an Transparenz, Datenqualität, Dokumentation der Modelle und menschliche Aufsicht einher.

Konsequenz für HR: Für die eigentliche Persönlichkeitsdiagnostik sind Sie mit wissenschaftlich validierten, Big-Five-basierten Fragebögen aktuell deutlich besser beraten als mit „Black-Box-KI“, die Persönlichkeit aus Bild- oder Sprachdaten ableiten will. KI-Diagnostik ohne belastbare Gütemaße gehört aktuell eher ins Labor als in reale Auswahl- oder PE-Entscheidungen.

Trend 2: KI in der Anforderungsanalyse: Mehr Präzision vor der Messung

Deutlich sinnvoller ist der Einsatz von KI in den vorgelagerten Schritten der Diagnostik, vor allem in der Anforderungsanalyse.

Eine Persönlichkeitsanalyse im Recruiting ist nur so gut wie das zugrundeliegende Soll-Profil. KI-Tools können hier unterstützen, indem sie Stellenbeschreibungen, historische Performance-Daten, Lebensläufe erfolgreicher Stelleninhaber:innen und weitere Informationen strukturieren und Muster sichtbar machen.

Der entscheidende Schritt bleibt jedoch menschlich und psychologisch fundiert: HR-Profis und Führungskräfte übersetzen diese Muster in klar definierte Konstrukte, wie etwa „hohe Gewissenhaftigkeit“, „emotionale Stabilität“ oder eine bestimmte Ausprägung von Extraversion und entscheiden bewusst, welche Big-Five-Facetten für die Rolle kritisch sind und welche Vielfalt zulassen.

So entsteht ein belastbares, persönlichkeitsbezogenes Anforderungsprofil, das anschließend mit einem fundierten Persönlichkeitstest gemessen werden kann, statt sich auf diffuse KI-Scores zu verlassen.

Trend 3: KI als Co-Pilot bei Interpretation und Kommunikation von Testergebnissen

Auch nachgelagert, also nach der Durchführung einer Persönlichkeitsanalyse, kann KI echten Mehrwert stiften. Erste Lösungen setzen Chatbots ein, die auf Basis eines fundierten Persönlichkeitsprofils:

  • Recruiter:innen auf relevante Aspekte hinweisen (z.B. mögliche Risikokonstellationen aus niedriger emotionaler Stabilität und hoher Wettbewerbsorientierung),
  • Interviewleitfäden generieren, die direkt an Big-Five-Facetten anknüpfen,
  • Kandidat:innen ihr Profil laienverständlich erläutern und typische Arbeitspräferenzen beschreiben.

Wichtig ist die Rollenverteilung: Die Datenbasis stammt aus einem validen, reliablen und objektiven Test, die KI unterstützt bei Verdichtung, Formulierung und Personalisierung. Entscheidungen über Eignung, Förderung oder kritische Entwicklungsfelder bleiben klar beim Menschen, idealerweise bei Personen mit fundiertem Verständnis von Persönlichkeitspsychologie.

Trend 4: Personalisierte Lern- und Entwicklungspfade auf Basis der Persönlichkeit

In der Personalentwicklung zeigt sich das größte Potenzial dort, wo KI auf Persönlichkeit aufbaut, statt sie zu ersetzen.

Konkret kann KI etwa:

  • aus Persönlichkeitsprofil (Big Five), Motiven und Kompetenzen individuelle Entwicklungsfelder identifizieren,
  • dazu passende Lernformate, Coachingansätze oder Praxisaufgaben vorschlagen,
  • Coaching-Bots bereitstellen, die Mitarbeitende im Alltag begleiten und Interventionen an Persönlichkeit und Zielsetzung anpassen,
  • Lernpfade dynamisch anpassen, wenn sich Fortschritte oder Widerstände zeigen.

Damit wird ein Ansatz möglich, den moderne Persönlichkeitsdiagnostik schon länger verfolgt: weg von Standardseminaren, hin zu personalisierten Entwicklungsreisen, die an stabilen Dispositionen (z.B. Gewissenhaftigkeit, Offenheit) und veränderbaren Kompetenzen ansetzen.

Was HR jetzt konkret tun sollte

Damit KI und Persönlichkeitsdiagnostik in Ihrem Unternehmen zusammen statt gegeneinander arbeiten, können Sie folgende Leitlinien etablieren:

  1. Klar trennen: Für Persönlichkeitsmessung nur Instrumente mit dokumentierter Validität, Reliabilität und Objektivität einsetzen – idealerweise Big-Five-basiert. KI kann unterstützen, aber ersetzt diesen Kern nicht.
  2. Scope definieren: KI gezielt in Anforderungsanalyse, Matching, Ergebnisaufbereitung und PE-Konzeption nutzen und nicht als vollautomatischen „Ersatz-Diagnostiker“.
  3. Compliance sichern: HR-KI-Tools vor Einsatz systematisch auf Datenschutz, EU AI Act, Transparenz und mögliche Bias-Risiken prüfen.
  4. Kompetenzen aufbauen: HR, Recruiter:innen und Coaches in grundlegender Persönlichkeitspsychologie (Big Five) und in den Funktionsweisen von KI schulen, um Ergebnisse kompetent einordnen zu können.
  5. Pilotieren und evaluieren: KI-Lösungen zunächst in begrenzten Piloten testen, systematisch mit bestehenden Verfahren vergleichen und nur bei nachgewiesenem Mehrwert ausrollen.

Die Zukunft der Persönlichkeitsdiagnostik wird nicht „KI statt Persönlichkeitstest“ heißen, sondern „KI plus wissenschaftlich fundierte Persönlichkeitsmodelle“. Wer diese Kombination beherrscht, gestaltet datenbasierte, faire und gleichzeitig menschliche HR-Entscheidungen.

Wie nutzen Sie KI im Zusammenhang mit Persönlichkeitsdiagnostik jetzt schon und wo ziehen Sie bewusst Grenzen?

Ihr

Dr. Martin Puppatz

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