Vielleicht haben Sie es mitbekommen, in den letzten Wochen gab es einige Rücktritte prominenter und eigentlich noch recht junger Spitzensportler*innen, vor allem Fußball-Nationalspieler, die ihre Karriere beendeten, obwohl sie körperlich sicher noch einige Jahre auf hohem Niveau hätten spielen können. Liest man die Interviews, die mit den Sportlern nach ihren Rücktritten geführt wurden, fällt eines auf: Es finden sich übereinstimmende Aussagen zu den Gründen der Rücktritte und der Bewertung der Erfahrungen im Spitzensport:
- Die Sportler haben das Gefühl, in einer Blase zu leben, in der das ganze Leben ausschließlich auf den Sport ausgerichtet ist, wodurch sie sich zwar auf den Sport konzentrieren können, jegliche anderweitige Entwicklung allerdings zu kurz kommt
- Dies ist besonders problematisch, da die Sportler den Spitzensport als eine Welt beschreiben, in der großer Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und zum Teil Oberflächlichkeit vorherrschen.
Um mit den beschriebenen Rahmenbedingungen umgehen zu können, müssen Spitzensportler*innen über eine reife und gefestigte Persönlichkeit verfügen. Diese können sie aber nicht in einem Umfeld entwickeln, in dem sie mehr wie hochgezüchtete Rennpferde denn als vollwertige Menschen mit entsprechenden Verpflichtungen und Aufgaben auch außerhalb des Sports behandelt werden.
Psychologische Angebote im Sport
Vielleicht möchten Sie jetzt einwenden, dass es doch in den letzten Jahren einen regelrechten Boom an psychologischen Angeboten im Spitzensport gegeben hat. Das ist korrekt, allerdings konzentrieren sich diese Angebote bisher ebenfalls fast vollends auf die Steigerung und Aufrechterhaltung der Performance der Spitzensportler:
- Mentaltrainer*innen sorgen für Fokussierung und Konzentrationsfähigkeit vor und während wichtiger Spiele
- Psychologische Berater*innen fungieren als Ansprechpartner*innen im Falle persönlicher Krisen
- Motivationskünstler sorgen dafür die Spannung im Team hoch zu halten
Was allerdings fehlt, ist ein ganzheitliches und im besten Fall langfristig angelegtes Konzept, mit dem vor allem jungen Sportler die Möglichkeit gegeben wird, neben ihren sportlichen Fähigkeiten auch ihre Persönlichkeit in gleichem Maße zu entwickeln. Letztlich führt ein solches Konzept ebenfalls zur Steigerung der Performance der Sportler*innen, da es sie mental stärkt, ihnen erleichtert in neue Rollen (z.B. Führungspositionen im Team) hineinzuwachsen und sie weniger anfällig für Versuchungen oder Provokationen von außen macht.
Welche Bausteine sollte so ein Programm enthalten?
- Die Basis sollte eine fundierte und differenzierte Analyse der Persönlichkeit anhand eines aussagekräftigen Persönlichkeitstests sein, mit dem sich die Persönlichkeit in all ihren Facetten darstellen lässt
- Darauf aufbauend können verschieden Maßnahmen wie kontinuierliche Coaching-Termine mit einem festen Coach oder auch Trainings zu spezifischen Entwicklungsthemen (z.B. Führung einer Mannschaft) umgesetzt werden
- Die Teilnahme wäre freiwillig, das Programm sollte den Sportler*innen dabei unterstützen, ihr sportliches Potential UND ihr persönliches Entwicklungspotential voll auszuschöpfen
- Die im Programm behandelten Fragestellungen sollten sich dabei sowohl an jüngere Spieler wenden (z.B. wie finde ich meine Position und Rolle im Team, wie gehe ich mit Leistungsdruck um?) als auch ältere Spieler ansprechen (wie gelingt die Karriere nach der Karriere, wer bin ich ohne den Sport?)
Für Coaches, Trainer*innen und Berater*innen eröffnet sich hier ein Betätigungsfeld in dem noch viele Potentiale ungenutzt sind, da eine systematische Betreuung der Sportler*innen im Spitzensport derzeit noch aussteht und Programme mit den oben beschriebenen Inhalten von professionellen und erfahrenen Coaches umgesetzt werden müssen, um ihre positive Wirkung nachhaltig entfalten zu können.
Hier noch einige Zitate zu diesem Thema von (ehemaligen) Spitzsportlern:
„Wer bin ich? Und was bin ich so ganz ohne Fußball? Diese Fragen bewegen ihn. „Denn ich habe mich wirklich sehr lange nur als Fußballer gesehen“, sagt Schürrle.
André Schürrle – Interview mit DER SPIEGEL
„Im Endeffekt musst du funktionieren… Ich fühlte mich nicht mehr frei und das hatte auch Auswirkungen auf meinen Alltag, auf mein Spiel.“
Dennis Aogo – Interview mit 11FREUNDE
„Viele vergessen, dass die Fußballkarriere endlich ist. Nach zehn bis 15 Jahren muss man zwangsweise wieder ein normales Leben führen. Erst nach der Karriere damit anzufangen, ist deutlich schwieriger als dies schon früh zu erkennen. Man sollte nicht versuchen, in eine Rolle zu schlüpfen und sich zu verstellen. Ich habe einen Weg gefunden, der meinem Charakter entspricht.“
Benedikt Höwedes – Interview mit Goal.com
Ihr
Dr. Ronald Franke
Über den Autor:
Dr. Ronald Franke ist Geschäftsführer der LINC GmbH, promovierter Wirtschaftspsychologe und zertifizierter systemischer Coach. Als Berater und Trainer war er für Unternehmen aus den Bereichen Automotive, Pharma Maschinenbau und Handel tätig. Sein Wissen gibt er außerdem seit über 10 Jahren als Dozent an Hochschulen weiter (u. a. Leuphana Universität Lüneburg, FOM Hamburg).